Gero Fischer (30.10.1939 – 20.6.2025), Übersetzer und Herausgeber, hat die lange Reise angetreten. Er verstarb am 20. Juni in München.
Mein erstes Treffen fand um das Jahr 2005 herum, in der Raststätte in Vaterstätten bei München, vor zwei Jahrzehnten.
Wir sprachen über Miroslav Krleža, Zlato i srebro Zadra – Zadars Gold und Silber. Du hast den Essay wunderbar übersetzt. Damit begann eine fruchtbare Zusammenarbeit. Wir wurden Freunde, und DIE FAHNEN von Miroslav Krleža, die Du gemeinsam mit Silvija Hinzman übersetzt hast, und ein Glossar zum besseren Verständnis beifügtest, war Deine Meisterleistung!
„Was für ein Essayist ist da zu entdecken!“ schrieb Karl-Markus Gauß schon 1988 zu Miroslav Krleża. „Welche Sprachgewalt, welcher wahrhaft imponierende Weit- und Umblick über die Grenzen der eigenen Sprache, Kultur, Ideologie und Epoche hinaus, welche Fähigkeit, das Entlegene, das scheinbar Unzusammenhängende wie selbstverständlich zusammen zu sehen! Ein Gelehrter und doch von der Leidenschaft des Rühmens wie des Verwerfens erhitzter Schriftsteller, wollte Krleža den kroatischen Künstlern und Intellektuellen, wollte er der kroatischen Kultur den Weg nach Europa weisen – und für die empfohlenen Erkundungsfahrten gleich selbst den Immunstoff gegen europäische Modekrankheiten des Geistes bereitstellen. Nichts darf die Literatur vergessen, niemand darf sie vergessen – im gewaltigen Werk des Miroslav Krleža sind die Namen der Namenlosen und Jahrhunderte kroatischer Geschichte in Knechtschaft und Auflehnung verzeichnet. Aber da dieses Kroatien, wie es Krleža mit Zuneigung und Kritik gestaltet hat, stets ein historisches Krisengebiet war, in dem die Erdbeben Europas nachbebten und kommende Zusammenbrüche sich knirschend und krachend ankün-digten, ist in Krležas Gedächtnis des kroatischen Volkes auch europäische Geschichte aufgehoben“ setzte Gauß in seinem bis heute viel beachteten Essay-Band Tinte ist bitter nach.
Wie kam es zur Übersetzung Krležas Hauptwerkes ZASTAVE – DIE FAHNEN? 1978 ruft mich Ina Jun Broda, die legendäre Übersetzerin aus den jugoslawischen Sprachen, an.
„DIE FAHNEN, die müssen Sie verlegen.“ Ich, jung, unerfahren, wurde vom Umfang des Romans fast erschlagen. Fünf Bände, 3000 Seiten. Broda versucht, Krleža zu überzeugen, das epochale Werk zu kürzen.
1979 berichtet sie dann von den Gesprächen mit dem Autor: „Für eine deutschsprachige Übersetzung kürze ich Ihnen DIE FAHNEN ein. Auf 800 Seiten. Weniger geht nicht. Und Sie übersetzen das!“
Krleža stirbt Ende 1981, Broda folgt ihm August 1983 nach.
Es wird noch einmal fast ein Vierteljahrhundert dauern, bis sich Gero Fischer und Silvija Hinzmann daran machen, dieses epochale Werk ins Deutsche zu bringen. Neun Jahre werden sie und die Lektoren Gerhard Maierhofer und Josef Pichler daran sitzen, bis Miroslav Krležas Zastave – DIE FAHNEN im Sommer 2016 druckreif vorliegen.
Worum geht es in diesem großen Werk?
In seinem umfangreichsten Werk, dem ab 1962 veröffentlichten fünfbändigen Roman DIE FAHNEN (Zastave), der in den Jahren 1912 bis 1922 spielt und jetzt erstmals in einer deutschen Übersetzung vorliegt, zeichnet Krleža ein Panorama von der geistesgeschichtlichen und politischen Situation Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Schicksal von Bürgern, Aristokraten, Politikern, Ministern, Bürokraten, Generälen, Kriegsgewinnlern und Träumern, die ganze Galerie der ungarischen, kroatischen und serbischen Intelligenz – steht im Vordergrund dieser Chronik. Kriegsereignisse und Liebesbeziehungen werden miteinander verwoben.
DIE FAHNEN
zeigen ein Kaleidoskop der europäischen Geistes-und Kulturgeschichte, das Krleža zu einem großen europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts macht.
Krieg und Frieden. Europa zerfällt. Zwischen Wien und Zagreb, Budapest und Belgrad – quer durch Musils Kakanien. Die letzten Tage der Menschheit brechen an. Züge rasen hin und her. Politik, Wirtschaft, Regierungen, Beziehungen und Familien zerbrechen.
Nach 38 Jahren, allen Widrigkeiten zum Trotz, erschien das Werk und wurde im deutschsprachigem Feuilleton gefeiert!
Ein Jahrhundert vor unserem literarischen Auge. Das epochale Werk des Meisters der Erzählung Südosteuropas lag endlich in einer mustergültigen, gewissenhaften Übersetzung vor.
Mit dieser Übersetzung hat sich Miroslav Krleža, spät, aber nicht zu spät, auch im deutschsprechigem Raum behauptet!
Lieber Gero, auch unser letztes gemeinsame Büchlein – Avgust Šenoas Kugina kuća – Das Haus der Pest, neu übersetzt am Beginn der Pandemie 2020, brachten wir als Ultramarin Band heuer Anfang 2025 im Wieser Verlag heraus. Ein schönes Beispiel Deiner Übersetzungskunst und Šenoas allzeit gültigen Betrachtungen in Zeiten einer Pandemie.
Was sagtest Du beim letzten Telefonat im Mai: „Der Band Opatija für die Reihe Europa erlesen wird in Bälde.“ Du erinnertest Dich Deiner zweiten Heimstätte, die Dir im Herzen immer die Erste war. Der Europa erlesen Band Opatija erscheint nun in der Endredaktion Deines Freundes Miloš Okuka im Herbst 2025.
Ich werden das Brevier im Andenken an Dich im Herzen tragen.
Du bist zur ewigen Reise aufgebrochen und hinterlässt ein umfangreiches Werk und Trauer.
Sieben Bände Europa erlesen waren es, die Du, alleine oder mit Miloš Okuka bei Wieser gemacht hast!
Ankica, Deiner Frau, fehlst Du schon jetzt, wie uns, Deinen literarischen Wegbegleitern und Wegbegleiterinnen!
Ina Jun Broda und Miroslav Krleža warten auf Dich
und wenn Ihr Euch auf Deiner Reise trefft, werden sie Dich mit offenen Armen herzlichst begrüßen. Sie werden Dich am Stammtisch der Literatur empfangen und Krleža, wie er halt so ist, wird murren: Lang hast uns warten lassen, Freund! Aber jetzt bist ja da!
Lojze Wieser, Klagenfurt/Celovec, Anfang Juli 2025
Gero Fischer (30.10.1939 – 20.6.2025). Kurze Bio- Bibliographie.
Nach dem Abitur auf einem humanistischen Gymnasium studierte Gero Fischer (*1939-+2025), Germanistik, Romanistik, Slawistik und Computerlinguistik in Deutschland und den USA (Pittsburgh, Princeton). Nach langjähriger Tätigkeit in der automatischen Lexikographie und in leitender Position in den Bereichen künstliche Intelligenz, Mensch-Maschine-Kommunikation und Datenbanksysteme übersetzte er seit 1996 kroatische und serbische Literatur ins Deutsche. Er lebte und arbeitete in München und Opatija.
Gero Fischer als Übersetzer und Herausgeber:
ÜBERSETZER
August Šenoa
Kugina kuća – Das Haus der Pest
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2025
Bojana Meandžija
Lauf! Warte nicht auf mich …
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2021
Miroslav Krleža
Die Fahnen: gemeinsam mit Silvija Hinzmann; Bände 2-4, Glossar
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2016
Ivo Andrić
Ex ponto: Lyrik und lyrische Prosa
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2012
Miroslav Krleža
Zadars Gold und Silber
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2007
HERAUSGEBER
EUROPA ERLESEN
Opatija
hrsg., Endredaktion Miloš Okuka.
Klagenfurt/Celovec: Wieser. Herbst 2025
Rijeka
hrsg. mit Gerhard Michael Dienes, Ervin Dubrović und Marijana Erstić
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2020
Vojvodina
hrsg. gem. mit Miloš Okuka
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2009
Kvarner
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2007
Mostar
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2008
Slawonien
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2005
Terra Bosna
hrsg. gem. mit Miloš Okuka
Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2002
MITHERAUSGEBER
„Am Kärntner Wesen könnte diese Republik genesen“: an den rechten Rand
Europas: Jörg Haiders „Erneuerungspolitik“
hrsg. mit Peter Gstettner
Klagenfurt/Celovec: Drava 1990