Ich habe in diesen Tagen, aus Anlass des 240. Bandes von EUROPA ERLESEN ein wenig über die vergangenen Jahrzehnte und die Veränderungen nachgedacht. Eine gekürzte Form erscheint als Antescriptum ab dem Band 240. Hier die Langversion vom 3.9.2021
Als wir Mitte der Achtzigerjahre mit dem Verlag begannen, die blinden Flecken Südost- und Osteuropas literarisch ausfindig zu machen, war die europäische Welt auf Entdeckung eingestellt. Die Neugierde war allgegenwärtig, die Umbrüche noch vor uns. Als dann am Ende des Jahrzehnts die Mauern fielen, war die Euphorie kaum zu stoppen. Eine neue Ära sei angebrochen, Europa wieder eins, die Reiche zerbröckelt, hallte es von überall.
Diese Freude hielt nicht lange an. Schon brauten sich am Balkan dunkle Wolken zusammen, der Krieg hielt, nach knapp einem halben Jahrhundert, mit der Neuaufteilung Jugoslawiens wieder Einzug in Europa. Neue Nationalstaaten entstanden, zu den alten Minderheiten gesellten sich neue, der für überwunden gehaltene Nationalismus erlebte eine ungeahnte Renaissance, Intellektuelle wurden zu Apologeten und ahnungslose Politiker zu Propheten. Dabei hatte doch in den Achtzigerjahren die Neugierde auf die hinter der Eisernen Mauer verborgenen Kulturen zugenommen, verbunden mit der Hoffnung, sich kennenzulernen. Übersetzungen wurden mit Interesse gelesen und besprochen, verglichen, gelobt. Die Themen der Literatinnen und Literaten hat man mit den eigenen Fragen verglichen und bemerkt, dass hie wie dort ähnliche Fragen gestellt, zum Teil unterschiedliche, aber nicht unnachvollziehbare Antworten gegeben wurden. Drüben oft früher als hier und umso bemerkenswerter.
Das Fenster war jedoch schon bald von Staub und Nebel, von Rauch und Blut wieder matt und blind geworden. Auf allen Seiten florierten Rechtfertigungsversuche, die das alte Recht für sich und die eigene Nation einforderten, es den anderen, zu Minderheiten gewordenen, jedoch absprachen. Alles im Brustton der Überzeugung, im Recht zu sein, denn man hole sich ja nur, was einem über Jahrzehnte, später sagte man Jahrhunderte, verwehrt wurde. Sprachen wurden zu Messern der Teilung, Gedichte zu wehklagenden Anrufungen. Auf der Strecke blieben die Literatur und die Kultur, geschrieben in den verschiedenen Sprachen, die universalen Verse bekamen Korsette umgelegt und verstummten. Was deutlich, breit und laut daherkam, das waren zunehmend die Stimmen der neuen, gesäuberten Sprachen und die Interessen der Kulturpolitik, diese für die Konsolidierung ihrer Nationalmacht zu nutzen. Hie wie dort war man damit beschäftigt und grenzte sich gegenüber den anderen Kulturen zunehmend ab. Hie, weil man in der vermeintlichen Rückständigkeit des Balkans gute Bedingungen vorfand, sich als großzügig zu erweisen, und dort, weil man sich als Nation bestätigt fühlte und als Autor, weil man für kurze Zeit aus der Mittelmäßigkeit herausragte und darin schon Erfüllung sah.
Als wir vor mittlerweile mehr als 24 Jahren die Reihe Europa erlesen erdachten, war es uns keineswegs bewusst, dass wir damit auf ein tiefgreifendes Versäumnis in der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte hinweisen würden. Die Kleinodien, wie sie schon bald genannt wurden, sind im Nebel des Krieges am Balkan und der im Trüben verschickten Briefbomben geboren worden, als Antwort auf das dräuende Beben, das den ganzen Kontinent erfassen sollte und – aus heutiger Sicht – zuerst eine Epidemie der Verknöcherung des Geistes und später eine Pandemie der Angst mitführte. Angst, die eigenen Privilegien an die herumziehenden fremden Massen zu verlieren, die sich allmählich in Ablehnung und später in Hass zu wandeln begann und die soziale Basis für den raschen Rechtstrend in Europa abgab. Ein Nationalstaat nach dem anderen begann sich zu verbarrikadieren und zugleich auf den Nachbarn mit dem Finger zu zeigen, und der neue wie der alte Nationalstaat entwickelte seine Doktrin, aus der wie von selbst wieder Stacheldrahtzäune und Mauern wuchsen. Vergessen die Berliner Mauer, vergessen der Eiserne Vorhang, vergessen Europa als Friedenskontinent, vergessen die Gleichheit der Menschen, wenn einem das Hemd näher wird als der Rock. Kultur, Sprache der Hergekommenen und Verständigung mit ihnen? Menschenrechte, wenn durch die hereinbrechenden Fremden »unsere« Demokratie gefährdet ist? Integrationsunwilligkeit, Härte, Abschiebung und Demütigung begannen zu herrschen und die Beamten fühlten sich im bürokratischen Element.
Europa ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gespaltener als je. Es handelt sich, nach einem kurzen Zwischenhoch, um zwei ganz verschiedene Teile. Nichts mehr vom Zusammenwachsen, was zusammengehört, nichts mehr von gegenseitiger Hilfe. Die Mittel braucht man für Frontex, Stacheldrähte und Zäune. Nicht zum ersten Mal müssen wir diesen Zustand in Europa überwinden. Wenn man knapp 100 Jahre in das Jahrzehnt vor dem 2. Weltkrieg zurückschaut, wird man ähnliche Vorgänge finden. Damals diagnostizierte das Universalgenie, der Schriftsteller Miroslav Krleža, was heute wieder gilt:
„Wenn wir heute von Europa sprechen und zu ergründen versuchen, worin die Sendung dieses ruhmreichen, großen und uns so teuren Kontinents besteht, dürfen wir nicht vergessen, dass es zwei Europa gibt. Neben dem klassischen westeuropäischen, museal-grandiosen, historisch-pathetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker. Dies sind jene Völker im Baltikum, im Donau- und Karpatenraum und auf dem Balkan, denen es bestimmt ist, nicht innerhalb der europäischen Mauern zu leben, sondern antemural, eine Art Glacis bildend gegen die osmanische und mongolische Gefahr und gegen alle anderen Bedrohungen militärischer und politischer Art.“
Es gilt jedoch anzumerken: Einige der damals „antemuralen Völker“ sind mittlerweile in den erlesenen Kreis des „klassischen“ und des privilegierten Europa aufgestiegen und tun sich in der Abwehr der hereinbrechenden ins Elend geworfenen und armen Menschen besonders hervor, als ob man sich nachträglich als Vorzugsschüler der europäischen muralen Vertreter der Privilegien und der Macht präsentieren möchte, in der Tradition der katholischen Abwehr der heutigen Schuldigen, der Osmanen, Verzeihung, der Muslime.
In Ermangelung neuer Visionen, wie Menschen und Kulturen, wie Sprachen miteinander friedlich leben sollten und könnten, setzt man auf Härte, Terror, Verhetzung und Hass. Dabei vergisst man, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der Kriege war, dass die aus nationalistischem Egoismus betriebenen, völkerbundbetreuten und stalinistischen großflächigen Verschiebungen von Menschen und deren chauvinistische Assimilation zum Nährboden für die industrielle Vernichtung von Menschen durch die Nationalsozialisten wurde, die sich zum Ziel setzte, die jüdische, die Roma-, Sinti- und die slowenische Kultur auszurotten, und die mit dem „unwerten Leben“ experimentierte, um Grundlagen fürs eigene bessere Leben medizinisch zu „erforschen“.
Das alles wäre damals ohne aktive Unterstützung einer Vielzahl von Menschen in den reichen europäischen Ländern nicht möglich gewesen, so wie es heute ohne Unterstützung beziehungsweise stillschweigende Akzeptanz breiter Teile der Bevölkerung nicht ginge, dass menschenverachtende Abschiebungen als gesetzestreu und die Demokratie beschützend verhandelt und allgemeingültige Menschenrechte vor aller Augen missachtet, übergangen, umgedeutet und außer Kraft gesetzt werden. Es begann auf leisen Sohlen und es hat schon längst das Bewusstsein großer Teile der Gesellschaft erreicht.
Im ersten Antescriptum 1997 schrieb ich:
EUROPA ERLESEN soll eine Schatzsuche und zugleich Entdeckungsreise sein nach einem Gobelin der Kulturen und der Verknüpfung von Bildern. Aus der Vielzahl bekannter und unbekannter Namen soll ein ganzheitliches Bild der Stadt, der Region, der Menschen, ihrer Sinne, ihrer Gefühle und ihrer Träume werden, und es möchte die Weiterentwicklung von Voltaires Satz Europa kennen, Europa erkennen“ in „Europa kennen, Europa erkennen, Europa erlesen“ sein. (Ende August 1997)
Heute müssen wir fragen: Haben wir die Zeit nicht genutzt? Wir sind im „naiven Glauben“, wie Samo Kobenter in „Der Standard“ 1998 formulierte, verblieben, weil wir einem „altmodischem Vorhaben“ folgten, weil wir dem „naiven Glauben an die Erzählbarkeit der Welt treu bleiben, dass dieser Kontinent, seit alters in Kriegen geschunden und geschändet, seine Würde im literarischen Text bewahrt, seinen Sinn in die Kunst hinübergerettet hat.“
Müssen wir wirklich zur Kenntnis nehmen, dass wir der »Erzählbarkeit der Welt« nicht »treu« geblieben sind? Müssen wir die Träume aus der zweiten Hälfte der Neunziger wirklich begraben?
Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts braucht kein Nationalstaatlichkeitsprinzip, wohl aber eine Form des Zusammenlebens, in der sich Kulturen, Sprachen und Menschen unabhängig von Staatsgrenzen und politischen Notwendigkeiten entwickeln können, ihr Tun und Wollen aufeinander abstimmen, frei von der Stigmatisierung „Minderheit“ oder „Mehrheit“, frei von Attributen wie „fremd“ oder „bedrohlich“, unabhängig davon, Immigrant oder Emigrant zu sein.
Es ist hoch an der Zeit, die friedliche Koexistenz auf Menschen und nicht auf Militärblöcke zu beziehen, nicht den Kampf der Kulturen zu beschwören, wie dies neuerdings häufig zu lesen ist (und obwohl es die Praxis zum Scheitern gebracht hat, 2021 erneut angebetet wird. LWi.), diesem neuerlichen Stigma eine Sicht entgegenzustellen, in der die Notwendigkeit, das Vaterland mit Waffengewalt zu verteidigen, der Freiheit weicht, die Muttersprache ohne Beschränkung durch politische, staatliche, ökonomische oder andere Auflagen zu gebrauchen. So wird die Kultur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Flanierend durch ein Europa der Unterschiede und der literarischen Bilder, möchten wir mit der Reihe EUROPA ERLESEN dazu unseren Beitrag leisten. (November 1998 / Jänner 1999)
Und lese ich die Anrufung vom 20. Juli 1999, keimt trotz alledem, trotz aller derzeitigen niederdrückenden Informationen, die über einen niederprasseln, tief im Inneren Hoffnung auf:
Auf unserer „imaginären Reise durch die verschwundene Welt“ haben wir aber auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass diese (trotz 230 erschienener Bände, Herbst 2021, LWi.) im Grunde genommen noch gar nicht begonnen hat, dass wir am Anfang stehen und dass wir gerade nur einen Zipfel zur unbekannten Welt der menschlichen Seele gelüpft haben. Wir haben jedoch bereits eine Ahnung von dem bekommen, was sich darunter verbirgt und welch eruptive, melodische, feine Töne man wahrzunehmen vermag, dem Gesang der Sirenen gleich, leiht man ihnen sein Ohr.
Wir haben unterirdischen Flüssen gelauscht und vielleicht erstmals begriffen, dass sie, wenn auch nicht sichtbar, doch umso hörbarer, existenter sind, als räumliches Tabu das eine, als Sehnsuchtsort das andere Mal. Wir haben Karten geschaut und auf ihnen jene Orte der Sehnsucht gesucht; und je mehr wir den Kartographen folgten, desto mehr verirrten wir uns, kamen vom Weg ab und mussten von neuem beginnen, denn jene Wege zu den Gesängen der Sirenen und den Sehnsuchtsorten waren nicht verzeichnet. Je deutlicher der Weg, je dicker die Linie, desto sicherer tappen wir ins Ungewisse. Uns wird erschreckend klar, wie sehr es uns an einer Landkarte der Literatur mangelt.
Und auch wenn Ermüdungserscheinungen auf den Elan drücken mögen, auch wenn die Bedingungen der Herausgabe der Bücher und die Akzeptanz der Idee, sich mit Erzählungen und Büchern gegen die erdrückende Gleichgültigkeit zu wappnen und zu behaupten, sich stark verändert haben, so bleibt die Feststellung aus dem Jahr 2000 und verändert für uns nichts an der damaligen Zielsetzung:
Auf unserer Reise zur Einigung Europas sehen wir, dass die Aufrechterhaltung, aber auch die In-Frage-Stellung des Nationalstaatlichkeitsprinzips ohne die Verwirklichung hier skizzierter demokratischer Rechte für alle Bürger und Bürgerinnen Europas nur zur weiteren Verschärfung innerhalb der europäischen Grenzen führen wird. Die Folgen werden, neben der nationalistischen und chauvinistischen Spaltung, die Vertiefung der sozialen Spaltung der Gesellschaft und die Verfestigung einer Oberschicht in Europa sein, die die immer geringer werdenden Vorteile gegenüber den nachrückenden ärmeren Massen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen sucht und damit die soziale Basis für politische Bewegungen abgibt, auf deren Grundlage diese heute schon, hier und europaweit, an die Macht drängen.
Demgegenüber kann nur eine Offensive zur Wachrüttelung der breiten Öffentlichkeit im demokratischen Sinne eingeleitet werden, in Verbindung mit einem Offert der Integration des alten an das neue Europa, indem das alte Europa, aufgrund des in den vergangenen Jahrhunderten angehäuften Reichtums, diese soziale und kulturelle Offensive mitträgt und somit eine Phase kultureller Zivilität einleitet – als Fortsetzung der Politik des europäischen Einigungsprozesses auf demokratischer, gleichberechtigter Grundlage, im Gegensatz zu vergangenen und heutigen nationalen und chauvinistischen Einigungskriegen.
Auf unserer Reise zur Einigung Europas machen wir Bücher. Mit diesen treten wir an gegen einen neuen Populismus, der imstande sein kann, Europa für weitere 1000 Jahre in der Spaltung zu belassen. (Ende Jänner 2000)
Wie vor einundzwanzig Jahren frage ich mich heute:
Aber wo bleibt der Mensch? Wo bleibt die Kultur? Sind es nicht jene, die Kultur nur meinen, wenn es sich um die eigene handelt, und sind es nicht dieselben, die ihre Kultur über all die anderen stellen?
Wird nicht Horaz der Satz zugeschrieben, dass die Bienen fremde Säfte suchen, um diese in eigenen Honig zu verwandeln? Könnte dieser Gedanke Anregung sein, damit zu beginnen, heutige Verwirrungen zu entwirren und Wege zu finden, wie man miteinander und mit dem beiderseitigen Reichtum umgeht, ohne sich dabei über den anderen stellen zu wollen? Könnte nicht doch die Kultur zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln werden? (Juni 2001)
Wie viel Literatur zur Verständigung beitragen kann, haben die letzten 40 Jahre in Kärnten gezeigt. Ohne die sickernde Wirkung der in Originalsprache und in Übersetzung verlegten Kultur wäre Kärnten heute bei der Überwindung des Jahrhundertkonflikts nicht dort, wohin es sich entwickelt hat.
Der Blick der Literatur ist vielleicht imstande, ein feinfaseriges Bild einer Region zu zeichnen, und auch dazu, Berge, Flüsse, Straßen, Menschen und ihr Denken, ihr Fühlen und Erinnern in spannende Geschichten zu verwandeln. Er ist aber vielleicht auch dazu bereit und am ehesten geeignet, dieses Pulsieren über den Ort hinaus in neue Orte zu tragen, in eine neue Geographie einzupflanzen und ihnen ihre Ursprünglichkeit und Originalität zu belassen.
Denn solange wir nur die räumliche Aufhebung durch Literatur sehen, nicht aber auch ihre konkrete Verwurzelung und ihren Ausgangspunkt, wird Fernand Braudel noch lange auf ein Echo warten. „Wir verfügen über Museumskataloge, aber nicht über Kunstatlanten, über Kunst- und Literaturgeschichten, aber nicht über Kulturgeschichten“, schreibt er in seinem dreibändigen Beitrag zur Kulturgeschichte des Mittelmeers. Dem würden wir hinzufügen: Kulturgeschichten und Literaturatlanten fehlen uns. (September 2020)
Nach einem Jahrzehnt der Herausgabe der Reihe Europa erlesen kamen aber auch, neben der Zuversicht, die Zweifel:
In diesem Jahrzehnt hat Europa wohl eine der größten Veränderungen und Erweiterungen erfahren. Mittlerweile schwindet die Bedrohlichkeit des anderen Europa; die Lust, es zu entdecken, wächst stetig, wie auch die Gefahr, es zu überrollen und seine Feinheit und Andersartigkeit, Musikalität und Diversität zu übersehen, darüber hinwegzuschauen und es aus den Augen zu verlieren, noch bevor man es richtig in Augenschein genommen hat. Umso wichtiger erscheint es, uns daran zu erinnern, dass die kleinen Bände Wegweiser sein möchten, die der Leserschaft die Möglichkeit der Auswahl der Richtung bieten, ihr aber doch ein wenig Orientierung, eine Art Wanderkarte, mit ins Gepäck geben.
Es gibt noch viel zu tun; je mehr wir von diesem Kontinent wissen, scheint es, umso weniger wissen wir. Lassen Sie uns weiter den Kontinent erlesen und lassen Sie uns gemeinsam lesend dem Erstarren entgehen. „Lesen und Gehen, ja, und Zuneigung. Vielleicht besser als das Wort Liebe, das ist mir ein bisschen verdächtig, weil das so oft gebraucht wird. Aber zugeneigt sein – offen sein und teilnehmen. Teilnehmen, ja. Teilhaben – ist auch ein schönes Wort. (…) Teilnehmen und teilhaben, und dann wieder, wie der Camus sagt: wo ist das Gleichgewicht zwischen, wie er sagt auf Französisch, ‚solitaire‘, das heißt einsam, und ‚solidaire‘, und solidarisch – und ‚solitaire‘: einsam und gemeinsam“, sagt Peter Handke im Gespräch mit Michael Kerbler im Band „Gehört gelesen, … und machte mich auf, meinen Namen zu suchen.“ Bleiben Sie uns gewogen, und ziehen wir gemeinsam weiter. (2007)
Vieles könnte noch gesagt werden, vieles aus den vergangenen Jahrzehnten herausgesucht und zur neuerlichen Beurteilung vorgelegt werden. Auch, dass man daraus erlesen kann, wie sich die Welt geändert hat und wie jede Zeit von uns Neues verlangt und dass sie nie stehen bleibt. Das ist – könnte man sagen – das Lesezeichen unseres Tuns und hilft uns, nicht aufzuhören. Auch wenn wir gedacht haben, der Bespiele, der Literatur, der Übersetzungen und der Annäherungen wären schon genug aufgelegt worden, um von sich auf das Bewusstsein zu wirken. Monsieur Erval: Es scheint, wir brauchen noch weiterhin einen langen Atem!
Hat die heutige Zeit einen Hieb? Sie vergisst großzügig und sie verlernt sehr schnell. Vor allem die Literatur!
Die Erinnerung und das Hinhorchen, das Finden und das Befragen fordert von uns Geduld, oder wie es Rainer Maria Rilke formulierte: „Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie es nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
Ist es nicht Literatur, die einen Spalt zum fernen Tag, eine Ritze aufzubrechen imstande ist? Nur in Versen, nur in Erzählungen werden wir das Dauerhafte finden, das uns über die stürzenden Bäche des Lebens geleitet. Sie sind es, die – oft in fremden Sprachen geschrieben – uns hineinwerfen ins Leben, wenn wir verzagen an den kulturlosen Alltäglichkeiten und den vermeintlichen Wirklichkeiten der hingeworfenen, ausgespuckten Worthülsen.
Sind nicht schon viele Bücher untergegangen an der Ignoranz, dem bloßen Sprachton gegenüber an den Tag gelegt, der – und meist auch von oben herab – belächelt wurde? Meist von jenen, die sich nur um ihren eigenen Kanon bemühten?
Wir leben in einer Zeit, die mehr und mehr Anpassung und Uniformiertheit fordert. Sind das nicht alles Vorläufer zukünftiger gewaltsamer Differenzierungen, Diffamierungen und Sprachenverachtungen, wie sie in der Geschichte immer dann auftraten, wenn sich gesellschaftliche Eruption andeutete, sich vorbereitete; und ist es nicht Ausdruck einer verzagten Reibung zwischen Zukunft und Vergangenheit, in der Kultur zum Spielball machtorientierter Selbstdarsteller verkommt? „Ich glaube, man sollte nur noch solche Bücher lesen“ – schreibt Franz Kafka – „die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“
Einige Bücher, vor allem die aus den anderen, fremden Sprachen, kommen auf leisen Sohlen daher und verbergen sich wie Pilze lange Zeit unterm Laub. Das eine Mal verschwinden sie auch im Nebel der Wahrnehmung, noch bevor sie richtig zur Hand genommen werden; das andere Mal im vernebelten Blick der kurzsichtigen Betrachter, die ihnen schon – grundlos – voreingenommen begegnen.
Das Gute an der Literatur ist, dass sie nicht untergeht, schon gar nicht im Treibsand der Belanglosigkeit. (Im feuchten Feber des Jahres 2014)
Ja, Sprache und Literatur finden immer wieder Schlupflöcher in die Zukunft und leben so weiter. Übertragungen in andere Sprachen sind wie Brücken über einen Fluss, sie verbinden ein Ufer mit dem anderen, und Flüsse selbst sind Bewegung, aus der das Leben wächst. Und damit wieder Sprache, Literatur und Kultur …
Also – lesen wir weiter! Trotz alledem – oder: Gerade deswegen!
Lojze Wieser, 3.9.2021