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Eine Zwischenbilanz. Ein Gedicht geht um die Welt

Über 200 Übersetzungen und Interpretationen. Wenn wir uns nicht verzählt haben, 219.

Ein Gedicht geht seit einem Monat um die Welt. Mit gestrigem Tag wurde es über zweihunderfach übersetzt und interpretiert. Geschrieben am Morgen, als der Krieg begann und den Menschen den Schlaf raubte.

Gerade jetzt auf die Kraft des Wortes und der Übersetzung zu vertrauen mag verstörend und aussichtslos erscheinen. Es mag auch Mühe bedeuten, aber das Wort, der Vers trägt gerade in schweren Zeiten die Fähigkeit in sich, das aufeinander Zugehen nicht zu vergessen. Neben dem Versuch, zu Verstehen und doch auch das Hoffen zu wagen.

Das Wort klärt den Blick, Verse geben in trostloser Zeit Hoffnung. Wir wagten sie. Wir finden verbindende, nicht tötende Worte. Wir haben und wir finden eine neue, eine gemeinsame Sprache!

Auch wenn der Krieg tobt, es bleibt uns nicht erspart, über die Zukunft nachzudenken und nach Möglichkeit ausschau zu halten zu beginnen, die vergangenen Fehler und Versäumnisse nicht wieder zu wiederholen.

Es machen sich ungeahnte Weiten und Möglichkeiten auf, auch wenn wir alle noch nicht wiklich registriert haben, welche innovative Kraft in und mit der Sprache immer wieder von Neuem erwacht und heranwächst.

Bisher haben wir über die heilenden Möglichkeiten, die in den Sprachen auf ihre Entfaltung harren, mehr oder weniger theoretisch gesprochen. Auf ihre Wirkung haben wir allzuoft nicht vertraut. Ähnlich dem Hollerstrauch, wo 8.000 heilende Komponenten vorhanden sind und erst aktiv werden, wenn sie gebraucht werden.

Auch mit und um das Gedicht geschehen Dinge, die bis dato so nicht bekannt waren: Schulklassen diskutieren in bisher nicht gekannter Weise über die Verse; aus allen Teilen der Welt kommen innerhalb von Tagen Übersetzungen: Vom Altmongolischen bis zum Ukrainischen. Überall drückt sich der Wunsch nach unmittelbaren Frieden aus, in einer unideologischen, die Phantasie bewegenden und – deutlicher als sonst – das Verbindende und die jeweilige Eigenart herausstreichenden Sprache, ohne die eigene Wichtigkeit überzubewerten.

Wir nehmen erstmals eine Wirklichkeit wahr, die die Wirkung der Übersetzung hervorstreicht und die die Kindheitssprache heller macht, auf die man stolz sein kann. Jeder und Jede für sich lebt und wächst in seiner gesprochenen Kindheitssprache auf.

Hervor treten verzaubernde, anziehende Bilder, die einen selbst verwandeln und auf einmal kann das Gesprochene ohne Opfermythos und Mitleidhaschend, oder agressiv, auftreten. Ganz selbstverständlich. Öffnend, frei machend.

Darin liegt das Mystische der Sprache und zeigt, wie ausdrucksreich Sprache – ob Hochsprache oder dialektaler Ausdruck – ist. Schleusenöffnend, die die aufgestauten Missachtung wegzuschwemmen imstande ist.

Kaum einen Monat nach Kriegsbeginn hat man das Gefühl eines Überganges zur Normalität und erstarrt. Nimmt man den Essay von Peter Gnaiger in den „Salzburger Nachrichten“ vom 12.3.und den Kommentar von Milenka Rječcina in den „Serbske Nowiny“ vom 18.3. bekommt man eine Ahnung, was mit Wort, Sprache und Kultur in Zukunft zustande zu bringen möglich macht.

Mit dem „Aufschrei in Versen“ ist ein trauriger Moment der Geschichte eingefangen worden und zugleich auch eine Wirkung geweckt worden, die in sich die Hoffnung trägt.

Wir haben das Hoffen gewagt und wir gehen auf eine Zeit zu, wo man sich der Osterfriedensmärsche erinnert.

Jedenfalls: Der Krieg in Europa lässt den innigen Wunsch nach einer neuen Friedensbewegung wach werden.

Es ist Zeit! Es ist Zeit nach einem Jahrhundert der Kriege es nicht wieder so einfach geschehen zu lassen. Nicht, dass Männer als Soldaten unter Befehlsgewalt zu Kanonenfutter werden und auf Verwandten, Gleichgesinnte, Brüder, Schwestern, Kinder schießen, Töten, (vielleicht mit zusammen gebissenen Zähnen), aber Töten!

Nie wieder Krieg!

Die Parole vergangener Zeit im Rückblick verblassend, wenn es zum realen Krieg kommt?

Jahrelang und millionenhaft skandiert – einfach vergessen und jeder geht hin?
Geleitet vom jeweiligen Nationalismus, die Vernunft, die Dessertation, der Widerstand im Hass erstickt und mit gegenseitiger Verachtung bedacht?

Ist das der Weisheit letzter Schluss?

Achtung, Würde, Menschenrechte – mit Füßen getreten, mehr denn je?

Sprachliche Souverenität und Verständigung dem Nationalstaat und seiner Assimilation geopfert?
Geht es wieder einmal als Kolleteralschaden durch, wie in den Jahrhunderten davor, in allen Teilen der Welt – von Afrika, über Amerika, Canada, Europa, Korsika, Irland, Wales, Asien usw. – die die Vernichtung von Gesellschaftsstrukturen, Sprachen und Kulturen bewusst förderten und bis heute in den Geschichtsbüchern verherrlichen.

Ist das die demokratischen Zivilisation, die wir mühsam in eine, wie es leider scheint, wacklige Rechstform und Verfassung brachten und ins Bewustsein zwängten?
Wird auch sie wieder bald im Schlamm der heranrollenden Panzer und im Primitivismus versinken?

Hier und Dort
Hier Sonne / Dort Bomben
Hier Frieden / Dort Tränen
Hier Zukunft? / Dort Graus!
Wohin gehen wir?

Tu in tam
Tu sonce / Tam bombe
Tu mir / Tam jok
Tu bodočnost? / Tam groza!
Kam gremo?

(c) Lojze Wieser, Slowenisch/Deutsch, 24.2.2022, um 7 Uhr)

Wohin, ja wohin gehen wir?

Klagenfurt/Celovec, am 24.3.2022

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